Multifunktionale Dorfläden: Lebensmittel, Dienstleistungen, Neuigkeiten

Blog-Beitrag #11 vom 10.10.2024

von René Lehweß-Litzmann (SOFI Göttingen)

Foto: LepoRello

Im Prinzip haben sich die Einkaufsmöglichkeiten auf dem Land in den letzten Jahren beträchtlich verbessert: Der Online-Handel hat selbst Dorfbewohner:innen in peripheren Regionen ein Sortiment an Gütern erschlossen, das zuvor nur in großen Städten zu bekommen war, vielleicht nicht einmal dort. Im Dorf wie in der Stadt steht der Erweiterung an Konsummöglichkeiten (teils ursächlich verbunden) eine Ausdünnung des stationären Handels gegenüber, mit dem Unterschied, dass es in so manchem Dorf zu einem gänzlichen Verschwinden lokaler Einkaufsmöglichkeiten kommt. Dorfladen-Initiativen entstehen als Reaktion der lokalen Bevölkerung hierauf. Wenn die letzte lokale Einkaufsmöglichkeit schließt, weil sie sich nicht mehr rechnet oder weil der private Betreiber in den Ruhestand geht und niemand „den Laden übernehmen“ will, gefährdet dies ein Dorf existentiell. Zumindest wer nicht auto-mobil oder gut familiär eingebettet ist, kann dort kaum weiter wohnen. Für den mobilen Teil der Dorfbewohner:innen verlängert sich durch Ladenschließung hingegen erstmal nur der Einkaufsweg um einige Kilometer, viele pendeln ohnehin zur Arbeit in die Stadt. Doch dann zeigt sich: Auch für sie geht etwas verloren. Denn mit den lokalen Einkaufsmöglichkeiten schwinden auch soziale Treffpunkte und Orte des Miteinanders. Man mag im städtischen Supermarkt alles bekommen und zum günstigen Preis, doch dass man dort Nachbarn trifft, ist fast so selten wie im Online-Shop, und zu einem Schwätzchen lädt der auf Effizienz angelegte Verkaufsraum auch nicht ein.


Dieser Beitrag aus der Reihe Was gibt’s Neues auf dem Land? schaut mit den „multifunktionalen Dorfläden“ auf ein Modell, das es inzwischen in Deutschland schon an hunderten Orten geben soll. Eine genaue Zahl ist schwer zu bekommen, auch wegen der Abgrenzungsschwierigkeiten: Gemeint sind nicht einfach Einzelhandelsgeschäfte in Dörfern, sondern solche Strukturen, die neben Lebensmitteln auch noch weitere Lücken im lokalen Angebot füllen und in denen die Zivilgesellschaft ehrenamtlich mitwirkt. Das heißt nicht unbedingt, dass der gesamte, arbeitsintensive Einzelhandelsbetrieb von Freiwilligen geleistet wird. Gängiger ist eine Kombination von Ehrenamt (z. B. zeitlich begrenzte Arbeitseinsätze im Verkauf) und bezahlter (z. T. fachlich geschulter) Arbeit. Arbeitgeber ist eine Genossenschaft (Beispiele Deersheim und Lippertshofen) oder ein (wirtschaftlicher) Verein (Beispiele Immensen, Klausen, Otersen), der jedoch auf Ehrenamtsarbeit basiert, etwa die Arbeit im Vorstand.


Was wird geboten?


Innovativ ist am Konzept multifunktionaler Dorfläden bzw. Dorfzentren, dass mehrerer Funktionen unter einem Dach vereint werden, und zwar je nachdem, was im Dorf gerade fehlt. Das Angebot reicht weit über Lebensmittel und Haushaltswaren hinaus, der Dorfladen ist auch ein Dienstleistungszentrum und, ganz wichtig, ein Ort der Begegnung. Was die Lebensmittel angeht, steht schon wegen der kleineren Verkaufsfläche deutlich weniger zur Auswahl als im Supermarkt, aber das könnte im Sinne von Nachhaltigkeit zukunftsweisend sein. Die Einbindung regionaler Lieferanten, wie sie Dorfladen-Initiativen anstreben, ist es auf jeden Fall. Die Transportwege werden dadurch verkürzt, die lokale Wirtschaftsentwicklung angeregt. Manche Kunden haben für lokale Produkte auch eine höhere Zahlungsbereitschaft, was dem Dorfladen beim Wirtschaften hilft. Das gilt auch für das Dienstleistungsangebot, das den Dorfladen z. B. zum einzigen Paketshop weit und breit machen kann, oder auch zum einzigen Ort, an dem Bargeld ausgezahlt wird (Dorfladen Gleiritsch). Auch Termine mit dem Friseur oder Optiker können in einzelnen dieser Dorfläden stattfinden. Beim Dorfladen Otersen können Vereinsmitglieder sogar ein E-Auto mieten.


Darüber hinaus ist, wie erwähnt, die Bedeutung des Dorfladens als Treffpunkt bzw. soziale Dorfmitte nicht zu unterschätzen.[1] Möglichkeiten zur Begegnung können ganz einfach durch Sitzmöglichkeiten und Tische geschaffen werden, an denen das Eingekaufte vor Ort gemeinsam verzehrt werden kann. Das Fehlen einer Gastwirtschaft vor Ort kann so teilweise ausgeglichen werden. Dorfläden sind auch Knotenpunkt für die Veranstaltung von Märkten und Festen, schon wegen der Räumlichkeiten und Infrastruktur, die sie mitunter vorhalten können (Kühlgeräte, Zapfanlage, Biertischgarnituren, etc.). Besonders aktive Dorfläden, die über die entsprechenden Räumlichkeiten verfügen, bieten zudem Formate der gemeinsamen Freizeitgestaltung an (in Deersheim z. B. eine Mitmachküche).


Das Soziale ist nebenbei eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren des Dorfladens selbst, denn er ist auf einen ausreichenden Umsatz und auf helfende Hände angewiesen. Nur wenn er von vielen Schultern getragen wird, kann der bürgerschaftliche Dorfladen auch dort bestehen, wo dies dem konventionellen Lebensmittelgeschäft nicht mehr gelingt. Es müssen also ausreichend viele Dorfbewohner:innen das Gefühl haben, dass es ihr Laden ist. Dabei hilft auch das Modell des Vereins bzw. der Genossenschaft, weil es Identifikation schafft. Man ist nicht nur Kunde, sondern auch Mitglied bzw. Eigentümer:in. Trotz allem scheint es nicht jeder Dorfladen-Initiative leicht zu fallen, die viele Arbeit, die ein Dorfladen macht, zwischen allen helfenden Händen ausgeglichen zu verteilen.


Neue kommerzielle Lösungen


Die oben beschriebene Versorgungslücke tritt inzwischen so flächendeckend auf, dass auch neue kommerzielle Lösungen entwickelt werden. Derzeit entstehen in rascher Folge neue Dorfläden, die ganz oder teilweise ohne Personal und mit digitalen Mitteln arbeiten. So ist ein Einkaufen fast rund um die Uhr möglich. Der Zugang erfolgt zu unbesetzten Einkaufszeiten mit Kundenkarte, die Abrechnung der Artikel per „Self-Checkout-Kasse“. Ein Beispiel ist Tante-M, das Unternehmen ist vorrangig im Süd-Westen Deutschlands aktiv und arbeitet mit lokalen Franchise-Nehmern zusammen. Die wirtschaftliche Effizienz, die erforderlich ist, um ein Lebensmittelangebot in kleinen Ortschaften zu ermöglichen, wird hier durch den gänzlichen Verzicht auf Verkaufspersonal und Synergien erreicht, die durch die Vielzahl an Filialen entstehen (zentralisierter Einkauf, Logistik, Webauftritt, etc.).


Ein solcher Ansatz muss aber nicht unbedingt eine Alternative zur bürgerschaftlichen Dorfladen-Initiative darstellen. Es ist durchaus eine Zusammenarbeit möglich, wie das Konzept Tante Enso zeigt.[2] Die genossenschaftlich organisierte Handelskette ist in ganz Deutschland mit Filialen vertreten, allerdings schwerpunktmäßig im Nord-Westen. Ihren Ursprung hat sie in der Großstadt (Bremen), doch sie nutzt und fördert „Verbundenheit durch gemeinschaftliches Wirken: Interessent:innen in einer ländlichen Region, in einem Dorf oder einem Stadtteil schließen sich in einer Genossenschaft zusammen. Sobald mindestens 300 Anteile an der Genossenschaft von einem Ort verbindlich reserviert sind, wird das Tante-Enso-Konzept dort auch verbindlich realisiert.“[3] Der Betrieb von Tante Enso-Läden läuft nicht gänzlich automatisiert, sondern es arbeiten dort durchschnittlich etwa drei bis vier Stunden am Tag auch „echte Menschen“ im Verkauf. Tante-Enso-Läden sollen dem Anspruch nach auch als soziale Treffpunkte fungieren.


Die Beispiele zeigen, dass Innovationen nötig sind, um die Nahversorgung im ländlichen Raum zu gewährleisten, ob es sich nun um technische, organisationale oder soziale Innovationen (oder Kombinationen hiervon) handelt. Anders als in manchen anderen Bereichen daseinsvorsorgebezogener Initiativen, die wir uns im Projekt InReSo anschauen, spielt in diesem großen Markt auch die Wirtschaft eine innovative Rolle. Inwiefern die neuartigen Läden tatsächlich als Soziale Orte gelten können, wäre weiter zu untersuchen.


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[1] Dies spiegelt sich auch in der Selbstbezeichnung des Vereins wider, der die Interessen der Bürgerläden in Deutschland vertreten möchte: „Die DORFbegegnungsLÄDEN in Deutschland e.V.“.

[2] Vgl. http://dorfladen-netzwerk.de/tante-enso/, letzter Zugriff 2024-10-01.

[3] Zitat von https://www.tanteenso.de/content/tanteenso/die-idee-von-tante-enso, letzter Zugriff 2024-10-01.