Gemeinschaftlich wohnen und leben auf dem Land

Blog-Beitrag #10 vom 28.08.2024

von René Lehweß-Litzmann und Laura Jaruszewksi (SOFI Göttingen)

Dieser Beitrag aus der Reihe innovative Initiativen auf dem Land blickt auf den Bereich Wohnen. Im Vergleich zu großen Städten, die seit Jahren unter Überfüllung leiden, ist es auf dem Land in der Regel leichter, Wohnraum zu finden. Dies gilt insbesondere in strukturschwachen Gebieten, aus denen Menschen eher abwandern. Dennoch finden sich zahlreiche innovative Initiativen zum Thema Wohnen auf dem Land. Sie zielen häufig weniger auf die Schaffung von Wohnraum an sich, als vielmehr auf gemeinschaftliches Wohnen. Hierfür bietet der ländliche Raum Realisierungsmöglichkeiten, entweder aufgrund von Leerstand mitunter großer Gebäude oder der Verfügbarkeit großer bebaubarer Flächen.


Nicht selten orientieren sich Wohngemeinschaften an geteilten Werten. Dies erleichtert das Zusammenleben, kann aber auch selbst eine Motivation für die Gemeinschaftsbildung sein. Wohnprojekte sind z. T. bewusst als Experimentierraum für „gelebte Utopien“ angelegt, mit dem Anspruch, einen Beitrag zur gesellschaftlichen Veränderung zu leisten (siehe die prominenten Beispiele Ökodorf Siebenlinden und Gemeinschaft Schloss Tempelhof). Die räumliche Nähe fördert (ebenso wie die tendenzielle Homogenität) den Austausch zwischen den Beteiligten und das Verfolgen gemeinsamer Ziele. Oft begünstigt eine separierte Lage die Gemeinschaftsbildung und die Autonomie der Wohnanlage (siehe Hitzacker Dorf oder auch Freie Feldlage).


Weitere ideelle Ziele, die über das gemeinschaftliche Wohnen hinausgehen, können die Denkmalpflege oder eine vorbildliche Baukultur im Sinne einer Aufwertung des Landschaftsbildes sein. Das Konzept KoDorf besteht etwa darin, vom Reißbrett aus und buchstäblich auf der grünen Wiese eine dörfliche Struktur neu zu schaffen. Auf dem Gelände entstehen neben kleinen Wohnhäusern auch Gemeinschaftsräume, Coworking-Spaces, Werkstätten, Spielplätze und Veranstaltungsräume. Nach dem Prinzip „Einheit in Vielfalt“ kommen die Objekte mit einer begrenzten Auswahl an Materialien, Formen und Farben aus. Auch das Einhalten oder besondere Verwirklichen ökologischer Standards ist ein Ziel, so wie es auch andere Initiativen beim Bauen, Renovieren oder späteren Betreiben der Gebäude verfolgen.


Auch praktische Gründe motivieren das gemeinschaftliche Wohnen, etwa um sich im Alltag zu unterstützen („Synergien“). Waren vor einigen Jahrzehnten Studenten-WGs in Städten sozial innovativ, sind es heute eher Wohngemeinschaften älterer Menschen auf dem Land (siehe z. B. das Projekt Alte Post in Witzenhausen, Hessen).[1] Ansätze des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Generationen (und miteinander nicht verwandt) sind, so unser Eindruck, eher die Ausnahme, und allenfalls dort anzutreffen, wo eine verbindende ideelle Klammer (s. o.) vorhanden ist. Überhaupt scheinen Wohnprojekte tendenziell eher Menschen anzuziehen, die sich nach der Familienphase, in der sie konventionell wohnten, noch einmal neu aufstellen, etwas Neues anfangen wollen. Ausnahmen gibt es jedoch zuhauf, siehe etwa die Fuchsmühle in Hessen. Vor dem Hintergrund von Veränderungen in der Arbeitswelt, die das Arbeiten in qualifizierten Dienstleistungsberufen auch außerhalb der Großstädte ermöglichen (Homeoffice), wäre für die Zukunft auch eine Zunahme junger Wohnkollektive auf dem Lande denkbar.[2]


Die richtige Struktur finden – es geht auch um Geld


Die Schaffung bezahlbaren Wohnraums kann ebenfalls ein Ziel ländlicher, bürgerschaftlicher Initiativen sein. Denn auch auf dem Lande steht der gewünschte Wohnraum nicht immer zur Verfügung: Für die Angebotsseite ist es ökonomisch nicht unbedingt rentabel, Wohnraum zu schaffen oder herzurichten, da dies auch auf dem Land inzwischen kostspielig ist und die Investitionen nicht durch Mieten und Preise auf Stadtniveau amortisiert werden können (vgl. Seelig 2020, 52). Ein eigenwilliges, interessantes Modell schlägt das in den 1980er-Jahren gegründete Mietshäusersyndikat vor, es kann hier nur in Grundzügen erläutert werden: Ein Wohnobjekt wird auf Basis von Darlehen erworben bzw. renoviert, die aus einem privaten Unterstützerkreis (zu niedrigen oder ohne Zinsen) bereitgestellt werden. Auf dieser „Eigenkapitalbasis“ werden ergänzende Bankkredite möglich. Die eingeworbenen Darlehen können später von anderen Darlehen abgelöst oder abgezahlt werden. Die Bewohner:innen wohnen dauerhaft zur Miete, das Objekt gehört einer eigens dafür gegründeten Haus-GmbH. Es kann nur im Ausnahmefall wieder zu Geld gemacht werden, sondern bleibt bezahlbarer und damit allen Einkommensschichten zugänglichen Wohnraum. Das Mietshäusersyndikat garantiert dies als Gesellschafter der Haus-GmbH. Dies wiederum kann selbst Ehrenamtliche, die selbst nicht einziehen wollen, motivieren, sich in der Entstehungsphase des Wohnprojekts mit Geld und Arbeitsleistung einzubringen. Das Konzept transportiert somit alternative, solidarische Prinzipien, die sich von denen des Eigentums und des Äquivalententausches abheben.[3] Einst aus einer großstädtischen Initiative hervorgegangen, wird das Modell des Mietshäusersyndikats inzwischen auch auf dem Lande eingesetzt.


Im Gegensatz hierzu ermöglicht eine Genossenschaft auch Akteuren mit begrenzter Kaufkraft den Erwerb von Wohneigentum, ohne unbedingt auf Solidarität angewiesen zu sein. Die traditionsreiche genossenschaftliche Rechtsform taucht bei innovativen Initiativen auf dem Land häufig auf (siehe z. B. die neu gegründete Genossenschaft WendLandWohnen oder die Bürgergenossenschaft Bad Grund). Eine Genossenschaft kann Eigentum besitzen und professionell arbeiten, gleichzeitig fördert sie demokratische Strukturen, begrenzt Kapitalrenditen und schließt Spekulationsgewinne aus. Im Projekt Hitzacker Dorf wird eine genossenschaftliche Struktur mit solidarischen Elementen kombiniert: Die Bewohner:innen werden Genoss:innen, zahlen eine Einlage, die sich an der bewohnten Fläche orientiert, sowie eine Miete, die ihre finanzielle Situation berücksichtigt. Auch das oben schon erwähnte, in Realisierung befindliche Projekt KoDorf nutzt die Möglichkeiten einer Genossenschaft. Es kombiniert ein genossenschaftliches Eigentum an den kollektiv genutzten Objekten und an Grund und Boden, auf dem das neu gebaute Dorf steht, mit privatem Eigentum am selbst bewohnten Haus, das somit auch ganz konventionell weiter veräußert werden kann. Es findet sich bei der Finanzierung gemeinschaftlichen Wohnens also ein Kontinuum zwischen getrennten Rechnungen und weitgehender Selbstverantwortung bis hin zu substantieller Umverteilung und solidarischer Bedürfnisorientierung.


Wohnen geht nahe – viele Abstimmungsbedarfe


Wenn sich, wie in unserer Gesellschaft üblich, Angehörige verschiedener Haushalte hauptsächlich am Arbeitsplatz oder im öffentlichen Raum begegnen, muss sich über viele Dinge der alltäglichen Lebensführung nicht geeinigt werden. In größeren Wohnverbünden sind die Abstimmungsbedarfe hingegen beträchtlich. Dies gilt für die Bauphase, wo viele Weichen gestellt werden und die gemeinsame Zukunft gestaltet wird, es gilt aber auch danach. Expertise für Sachfragen kann von größeren Gemeinschaften aufgebaut werden, indem Teilgruppen gebildet werden, die Aufgaben für längere Zeit übernehmen. An diese Gruppen kann auch Entscheidungsverantwortung delegiert werden. Jedoch erfordern es Wohnprojekte aufgrund der unmittelbaren Relevanz von Entscheidungen für die existentiellen Interessen und die privaten Umstände der Beteiligten, dass Entscheidungen möglichst von allen getragen werden oder zumindest akzeptiert werden können. Dafür werden in manchen Projekten „soziokratische“ Prinzipien angewendet (siehe hier). Häufig werden soziale Prozesse moderiert, entweder professionell durch Externe, oder aus der Mitte der Teilnehmenden heraus, wo Einzelne über entsprechende Interessen und Erfahrungen verfügen. Das kann sich auf die Lösung auftretender Konflikte beziehen, auf angeleitete Prozesse der gemeinsamen Visionsfindung, oder schon auf den Rekrutierungsprozess neuer Mitbewohner:innen. Größere Gemeinschaften entwickeln zum Teil über die Zeit ihre eigenen Kommunikationswerkzeuge bzw. inspirieren einander. Je mehr Beteiligte, desto größer die Herausforderung, miteinander im Gespräch zu bleiben, Gemeinschaft zu bleiben, und die Vielfalt an Perspektiven nachvollziehen zu können. Somit gehen Wohnprojekte z. T. auch mit alternativen „Governance-Formen“ einher, die innovatives Potential für die Gesellschaft haben – je nach Kontext, und insofern sie sich bewähren.


Innovative Wirkung? Ja, wenn auch begrenzt


Wirken innovative Projekte stimulierend auf ihr lokales Umfeld? Insbesondere bei Wohnprojekten ist zwischen der Aufbauphase und der operativen Phase zu unterscheiden. Zunächst ist die Initiative mit sich selbst und dem Schaffen von Strukturen beschäftigt. Manche streben schon in dieser Phase eine aktive Nachbarschaft mit Veranstaltungen und Projekten an, die sich auch nach außen richten. Etablierte Projekte suchen z. T. explizit den Austausch mit ihrer Region (ggf. auf Basis der eigenen Werte, beim Projekt Fuchsmühle der Gedanke der „Commons“). Die Einbettung in lokale Zusammenhänge gelingt nicht immer so schnell und weitgehend wie gewünscht und bleibt auf jeden Fall eine Arbeit für beide Seiten. Was Gemeinschaften mit „utopischen“ Gesellschaftsentwürfen angeht, ist genau diese lokale Einbettung ein Schwachpunkt – zu groß ist mitunter der kulturelle Graben zwischen den „avantgardistischen“ Kommunard:innen und der lokalen Landbevölkerung (vgl. Andreas 2015; 2013).


Wie steht es um überregionale oder gar gesamtgesellschaftliche Wirkung? Den Akteuren innovativer Wohnprojekte ist der Modellcharakter ihrer Aktivitäten i. d. R. bewusst. Die Gründer des Projekts Hitzacker Dorf etwa intendierten ursprünglich, eine Blaupause zu kreieren, die auf andere Orte übertragbar ist (in diesem Fall, um das Jahr 2015, ein die Beteiligten befähigendes Modell, wie Europa mit dem großen Zustrom von Flüchtlingen umgehen könnte). Nicht immer lässt sich ein so hoher Anspruch projektintern realisieren, und selbst wenn, so ist die Diffusion innovativer Praxen in die Mehrheitsgesellschaft nur sehr dosiert möglich. So hat die Erfahrung der letzten Jahrzehnte gezeigt, dass „intentionale Gemeinschaften“ wie Ökodörfer einen zu hohen Anspruch an gesellschaftliche Transformation verfolgt haben, um (in absehbarer Zukunft) erfolgreich zu sein. Gleichwohl sind sie Laboratorien und Wissensspeicher, auf deren Erfahrungen der gesellschaftliche „Mainstream“ auf seinem langen Weg Richtung Nachhaltigkeit zurückgreifen kann.

 

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[1] Auch das Konzept der Mehrgenerationenhäuser verbreitet sich und wird staatlich gefördert – dies sind i. d. R. jedoch keine Wohnhäuser, sondern soziale Treffpunkte für Jung und Alt.

[2] Vgl. das innovative Konzept des „Coconat” bei Bad Belzig in Brandenburg: Unter dem Begriff „workation“ bietet es eine Kombination von Erholung und digitalen Arbeit am Laptop, beides in naturnaher Umgebung und in Gemeinschaft mit anderen zumeist jungen Kreativ- und Wissensarbeiter:innen (siehe dazu den Beitrag #5 in diesem Blog.) Aufenthalte sind hier aber nur zeitweise, es handelt sich nicht um eine Wohngemeinschaft.

[3] Zu einer gemeinsamen Ökonomie nach dem Einzug der Bewohner:innen (wie z. B. die Mensch*meierei in Unterrieden, Hessen) muss dies allerdings nicht führen, dies liegt im Ermessen der einzelnen Wohnprojekte.