Bildung und Kultur: innovative Ansätze auf dem Land

Blog-Beitrag #8 vom 29.07.2024


von René Lehweß-Litzmann
und
Laura Jaruszewski (SOFI)

Foto: Kulturhof Kleinmecka © 

Dieser Beitrag aus der Reihe Was gibt’s Neues auf dem Land? widmet sich den Bereichen Bildung und Kultur. Hier steht der ländliche Raum beinahe zwangläufig hinter dem Angebot der Städte zurück: Eine geringere Bevölkerungsdichte sorgt für weniger Nachfrage im Einzugsbereich von Kultur- und Bildungsstätten, deren Finanzierung bzw. Subventionierung jedoch durch ausreichende Besucherzahlen legitimiert werden muss. Das Angebot an Schulen, Museen, Theatern, Veranstaltungen usw. ist folglich auf dem Land spärlicher und weniger ausdifferenziert. Im Bereich der schulischen Bildung wird ein Fehlen von Angeboten vor Ort dadurch gelöst, dass Schüler:innen z. T. über viele Kilometer täglich pendeln (müssen). Das Berufsschulnetz wird auf dem Land zunehmend ausgedünnt und wer höhere Bildung möchte, muss ohnehin in die Stadt ziehen. Hinzu kommt, dass Kultur nicht, wie schulische oder berufliche Bildung, top-down nach Lehrplan verabreicht werden kann – sie erwächst häufig aus dem und in Interaktion mit dem Vorhandenen. Das Land ist hier aufgrund seiner Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur im Nachteil. Von einer Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land kann daher innerhalb der Bereiche Bildung und Kultur keine Rede sein. Z. T. muss vielmehr von einer „kulturellen ‚Wüste‘“[1] gesprochen werden.


Gerade junge Menschen auf dem Land sind betroffen. Da ihr Bevölkerungsanteil dort besonders zurückgeht, können sie ihre Bedarfe z. T. nicht ausreichend geltend machen bzw. sind eine zu kleine Zielgruppe für mögliche Angebote. Dieser Sachverhalt erhält in letzter Zeit vor dem Hintergrund wachsender antidemokratischer Tendenzen im ländlichen Raum vermehrt Aufmerksamkeit, denn mitunter kümmern sich völkisch-nationale oder sonstige extreme Gruppen um das Problem fehlender Angebote. Doch gibt es auch viele demokratiefördernde und inklusive Beispiele. Längst nicht überall, aber an vielen einzelnen Orten, bieten bürgerschaftlich getragene Initiativen eine breite Palette von Bildungs- und Kulturangeboten, die insbesondere junge Menschen befähigen sollen, in der Gesellschaft ihren Platz zu finden und diese vielleicht sogar noch besser zu machen. Hier einige Beispiele: Das Kulturgut Linda in Frohburg bietet ebenfalls speziell der jüngere Generation Aktivitäten wie Theater- und Filmprojekte und auch technische Angebote zur MINT-Bildung. Der Verstehbahnhof Fürstenberg verfügt gar über ein Elektroniklabor und Maschinen wie Lasercutter und 3D-Drucker. Kinder und Jugendliche können hier zudem an Mikrochips und Computersystemen basteln. Der Verein ALLERLAND in Qualitz macht pädagogische Angebote in bildender Kunst, Literatur, Theater, Musik, Kunsthandwerk, aber auch Gesundheit. Unter dem Dach der Initiative SOHLAND lebt! findet ein wöchentlicher Zirkuskurs statt, oder es werden Streifzüge in die Natur unternommen und mit vorgefundenen Materialen kreativ gearbeitet. Im Naturschutzcafé wird Wissen zum Thema Pflanzenzucht und Artenvielfalt ausgetauscht und weitergegeben. Demokratie wird mittels „Kinderbeteiligung auf dem Land“ in Kinderräten früh eingeübt.


Gerade wer Bildung und Kultur vermitteln will, kann dies nicht ohne Mitwirkung der lokalen Bevölkerung tun. Nur in Zusammenarbeit sind die Angebote adressatengerecht und werden angenommen. Es geht darum, kreative, neue, erweiternde Impulse zu setzen, die aber dennoch anschlussfähig sein müssen an lokale Interessen und Problemwahrnehmungen. Innovative Bildungs- und Kulturinitiativen leisten häufig einen Transfer von der Stadt aufs Land. Nicht selten sind es Menschen, die (zumindest vorübergehend) in der Großstadt gelebt haben und mit frischen Ideen, ihren überregionalen Netzwerken und ihrem Know-how auf dem Land Bildungs- und Kulturangebote aufbauen. (Zum Teil kehren sie aus alter Verbundenheit in die Region ihrer Kindheit zurück.) Das Land bietet ihnen Freiräume, ihre Ideen zu verwirklichen. Historische Gebäude wie alte Bahnhöfe (siehe auch Kulturbahnhof Laage, Bahnhof Leisnig) oder Drei-/Vierseitenhöfe (siehe auch Kulturhof Kleinmecka), die als markanter Schauplatz für Veranstaltungen dienen können, üben eine besondere Anziehung aus. Auch ganz besondere, ausgefallene Baudenkmäler (das E-WERK Luckenwalde, die Feldsteinscheune Bollewick, das Kloster Posa bei Zeitz, das Theater Altes Hallenbad in Friedberg) werden genutzt. Sowohl die lokale Bevölkerung als auch die Zugezogenen können sich mit diesen Denkmälern identifizieren, in ihrer Pflege wird eine Wertschätzung aller Beteiligter für die Geschichte der Region zum Ausdruck gebracht. So bergen Baudenkmäler trotz oder gerade wegen ihres drohenden Verfalls das Potential, zu Kristallisationspunkten neuen kulturellen Lebens am Ort zu werden (siehe z. B. auch Villa Novalis in Hirschberg, Thüringen). Dass sie dabei dann ganz anders genutzt werden als ursprünglich, kann als Ausdruck lokaler sozialer Innovation gesehen werden.


Explizit nicht an konkrete Orte und Gebäude gebunden sind mobile Initiativen, die Kultur zu den Menschen bringen, z. B. das Kultur Mobil, das in einem 30-Kilometer-Radius um Passentin in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs ist oder der KulTourBus im Landkreis Märkisch Oderland. Der diesen Bus betreibende Verein Kultus e. V. wählt zusätzlich mit der [Bürgerbühne] ein weiteres innovatives Format: Politikerinnen, Verwaltung, Experten und Bürger*innen kommen öffentlich zusammen, um Themen der Kommunalpolitik zu diskutieren. Auch der Kulturnaturhof Bechstedt zielt auf Demokratieförderung, etwa durch Veranstaltung politischer Debatten. Zusätzlich werden in seiner Kulturscheune Konzerte, Filme und Buchlesungen dargeboten. Ein Stück urbane Populärkultur kommt mit der Comic-Bibliothek DeLoite in Loitz in den ländlichen Raum. Zudem gibt es eine Siebdruckwerkstatt, die Kurse und Kreativworkshops anbietet. Nebenbei diskutieren dort Loitzer über die Zukunft ihrer Stadt. Andernorts betreiben Ehrenamtler:innen ihr lokales Kino weiter (z. B. Neu-Deli in Einbeck und das Cinema Neustadt). Ein anderes Genre bedient das Projekt „Dorf macht Oper“ des FestLand e.V. in Klein Leppin, das jedes Jahr unter intensiver Mitarbeit der Anwohnenden in einem zum Opernhaus umgebauten Schweinestall „Hochkultur“ auf die Bühne bringt. Ähnlich kontrastreich bietet der Verein Festival Für Freunde im Brandenburgischen Dahnsdorf „Kultur im Kuhstall“ an: Zentrale Aktivität ist ein Theater-Festival, das einen besonders engen Austausch zwischen internationalen und regionalen Künstler:innen und dem Publikum anstrebt.


Im nahe gelegenen Dorf Reetz fand eine Dekade lang das Reetzival statt, das Musiker:innen unterschiedlicher Level und Altersgruppen mischte. Der Verein Oelala e.V. zielte damit auf Jugendförderung und -bildung, nicht nur in musikalischer, sondern auch in sozialer und ökologischer Hinsicht. Besonders innovativ und anschaulich war, den ökologischen Fußabdruck solcher Ereignisse durch gezieltes Monitoring sichtbar zu machen: Der Festival-Müll wurde gemeinsam gesammelt und gewogen. Ziel war, im Durchschnitt weniger als 25 Gramm Müll zu verursachen. Weitere Aktivitäten des Vereins Oelala e.V. richten sich an Schulklassen aus der Großstadt, die auf dem Vierseitenhof Sensthof beherbergt werden. Angeboten werden integrative Bildungsmöglichkeiten zur Selbst- und Naturerfahrung für benachteiligte Kinder und Jugendliche aus der Region. Das Land mit seiner unverbauten Natur bietet ideale Voraussetzungen zur Naturerfahrung, sowie auch Wissensschätze in diesem Bereich, die reaktiviert und zugänglich gemacht werden können (z. B. Kräuterkunde).


Handwerkliche Fähigkeiten können direkt beim Erhalt lokaler Baudenkmäler geübt und eingebracht werden, die wie oben erwähnt vorzugweise auch die Heimstatt ländlicher Bildungs- und Kulturinitiativen sind. Für die Restauration der oft denkmalgeschützten Objekte werden nachhaltige Bauarten (wie z. B. Lehmbau) eingesetzt, die einen sachgerechten und nachhaltigen Erhalt der ländlichen Baukultur sicherstellen. Das Alter der Bauwerke macht häufig eine Rückbesinnung auf traditionelle Handwerkskunst notwendig. Dabei wird, gerade auch jungen Menschen, zugleich Lokalgeschichte nahegebracht, es wird die ideelle Verbindung mit dem Ort gestärkt. Junge Menschen helfen etwa bei den Denkmalpaten in Einbeck, ein geschichtsträchtiges Fachwerkhaus zu „retten“. Der Verein Projekthof Karnitz in Gnoien zielt auf eine Begegnung zwischen Dorfbewohner:innen, sowie auf eine Begegnung mit der Geschichte des Dorfes am Ort der gemeinsam in Stand zu setzenden Gebäude. Den eigenen Lebensraum zu gestalten bringt die Erfahrung (kollektiver) Selbstwirksamkeit.


Die hier exemplarisch genannten Initiativen machen deutlich, dass sich das Land als Lern- und Kulturort eignet, zu dem unterschiedliche Gruppen beitragen und von dem Viele profitieren: Externe bringen Impulse in die Region, Akteure aus der Region werden aktiv, Mitwirkende nehmen Erfahrungen mit, ggf. auch zurück in die Stadt. All das löst soziale Innovationen aus: Zwar ist nicht alles, was geschieht, per se neu, doch es ist an dem jeweiligen Ort so noch nie (oder schon lange nicht mehr) unternommen worden. Der Austausch und die Kooperation zwischen Stadt und Land birgt auf diese Weise mannigfaltiges Potential für Wiederentdeckung und Erneuerung.


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[1] So der Allerhand e.V., letzter Webseiten-Zugriff am 24. Juli 2024. https://www.allerhandverein.com/verein.