Sozial innovativ und traditionell – ein Ortsverein überzeugt.
Oder: Fragen zur Definition und Bewertung sozialer Innovationen

Blog-Beitrag #6 vom 05.07.2024

Von Milena Kriegsmann-Rabe (Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, Centrum für Entrepreneurship, Innovation und Mittelstand)

Es herrscht Gewusel im Gemeindehaus von Stollzem* (*Name geändert). Männer und Frauen laufen eilig umher, hängen hier Girlanden auf, rücken dort Tische zurecht und werfen sich lachend Scherze zu. Inmitten des Raums steht eine Kuh aus Kunststoff. Ein Wettmelken ist geplant für den großen Tag morgen: Die Feier zur Gründung des neuen Ortsvereins.


Stollzem ist ein kleiner Ortsbezirk von etwa 400 Einwohner:innen und liegt an einem idyllischen Bachlauf im Landkreis Bernkastel-Wittlich im Bundesland Rheinland-Pfalz. Laut dem Landatlas des Thünen-Instituts entspricht der Landkreis dem Typ „sehr ländlich/weniger gute sozioökonomische Lage“. Zu den Indikatoren für die Bestimmung dieses Raumtyps zählen unter anderem eine lockere Wohnbebauung, eine geringe Siedlungsdichte und ein hoher Anteil an land- und forstwirtschaftlicher Fläche. Stollzem ist nur wenige Kilometer entfernt vom nächsten Grundzentrum mit Kindergärten, Grundschule und weiterführender Schule. Über anderthalb Jahre bot ein Stadtplanungsbüro in Stollzem im Rahmen einer Dorfmoderation Bürgerbeteiligungsformate an, die die Zukunft des Ortsbezirks thematisierten. Der Gemeinderat hatte einen Zuschussantrag beim Innenministerium gestellt, um die Bürgerbeteiligung realisieren zu können. Die Lebensqualität im Dorf, so der Ortsbezirksbeirat, sollte verbessert werden. In einer Stärken-Schwächen-Analyse wurden neben unterschiedlichen städtebaulichen Herausforderungen, wie dem Breitbandausbau, auch Schwierigkeiten des Dorflebens, der Dorfgemeinschaft, festgestellt. Dies machte man vor allem an fehlenden Dorffesten, also Möglichkeiten, als ganzes Dorf zusammenzukommen, fest. Der Vorschlag: die ansässigen Vereine zusammenzubringen, um gemeinsam Feste zu organisieren sowie einen Heimatverein zu gründen, der historische Gebäude pflegt. Zur Abschlussveranstaltung der Dorfmoderation kamen noch 15 Personen. Seitdem sind sechs Jahre vergangen. Nun hat eine Gruppe an Dorfbewohner:innen einen Ortsverein gegründet, der eine Welle an Beteiligung auslöste: Über ein Viertel der Dorfbewohner:innen sind dem Verein gleich zu Beginn beigetreten. Ziel des Vereins: Das Dorf wiederzubeleben, Feste und Traditionen zu erhalten oder neu anzubieten, deren Durchführung in den letzten Jahren an der Alterung bzw. dem Schwund der alten Vereine gescheitert waren. Gleichzeitig möchte der Ortsverein Stollzem auch Neuerungen im Ort durchsetzen: Alle Mitglieder sind eingeladen, sich mit ihren Interessen und Ideen für den Ort einzubringen. Denn es gab „Gespräche, auch vom Ortsbeirat […] wo es dann hieß, dass nichts mehr [hier] ist. Wir haben keinen mehr, der die Kirmes macht, weil die anderen Vereine halt so klein sind, auch halt auch schon älter“, sagt Anna* (*Name geändert). Die Frau, Mitte 40, hat den Stein mit ins Rollen gebracht. „Wir machen das nur, weil wir alle Kinder haben, weil wir wollen, dass die auch im Dorf bleiben, weil sonst ist irgendwann keiner mehr da“, verdeutlicht sie einen ihrer großen Beweggründe. Zusammen mit anderen Initiator:innen ist sie von Haus zu Haus gezogen, um für die Gründung des neuen Vereins zu werben und hat Flyer in jeden Briefkasten geworfen: „[Unser Dorf], so wie jedes Dorf, lebt von den Zusammenkünften, Veranstaltungen und Begegnungen, in denen Menschen zusammenkommen. Dadurch entstehen ein Gemeinschafts- und auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl. […] Alle die Lust und Zeit haben, weiterhin in [unserem Dorf] etwas für die Dorfgemeinschaft zu tun, sind herzlich […] eingeladen“, hieß es da. Der Ortsverein Stollzem plant einen Sozialen Ort, einen Ort der Begegnung und des dörflichen Miteinanders.


In unserem Forschungsprojekt „SIKUL“ untersuchen wir Soziale Innovationen im Bereich Kunst und Kultur in ländlichen Räumen. Ähnlich wie das SOFI-Projekt „InReSo“ verstehen wir Soziale Innovationen dabei als Veränderungen im Verhalten von Menschen, als häufig inkrementelle Änderungen, die meist keinen absoluten Bruch darstellen, sondern eine adaptive Änderung von etwas Bestehendem. Sie sind sozial in dem Sinne, dass sie ein soziales Bedürfnis adressieren. Oder wie es die Innovationsforscher Domanski et al. (2019) definieren: „In this perspective, we describe social innovation as a new combination and/or new configuration of social practices in certain areas of action or social contexts prompted by certain actors or constellations of actors in an intentional targeted manner with the goal of better satisfying or answering needs and problems than is possible on the basis of established practices”.


Der Ortsverein Stollzem ist eine solche Initiative, welche wir als sozial innovativ verstehen. Wie in vielen anderen ländlichen Gemeinden bedrohen der demographische Wandel und der Wegzug der jüngeren Generation das Fortbestehen des Ortes als solchem und als Gemeinschaft. Feste und Feiern, gemeinsame Ortsaktionen wie der „Dreckwegtag“ oder die Instandhaltung von historisch wichtigen Gebäuden können nur mittels einer kritischen Masse an Bewohner:innen angeboten und umgesetzt werden und überdauern. In Stollzem war der Kipppunkt erreicht, an welchem die bisherigen Institutionen – der Sportverein, der das Sommerfest organisierte, oder der alte Heimatverein, der Gebäude instand hielt – nicht mehr arbeitsfähig waren. Der neue Ortsverein als „neue soziale Praktik“ (Hofbauer 2016) nun soll ein Verein für alle sein, „für Jung und Alt“ (Anna*) mit ganz unterschiedlichen Interessen. Voraussetzung muss nicht sein, ein bestimmtes Instrument zu spielen, einem Geschlecht oder einer Altersgruppe zuzugehören oder ein spezielles Hobby zu verfolgen. Das verbindende Element des Vereins: Das Dorf.Die oft gestellte Frage, ob eine Soziale Innovation also etwas absolut Neues sein muss, kann mit dem Beispiel Stollzem verneint werden. Der Gegenstand dieser Sozialen Innovation, die Gemeinschaftsfeste, das traditionelle Brauchtum, sprich die Dorfkultur, sind etwas für Stollzem bereits Bekanntes, etwas, das vermisst wird. Die alten Traditionen werden aber in einer in einer für den Ort neuartigen Kombination von Gemeinschafts- und Heimatverein wiederbelebt – die sozialen Praktiken neu konfiguriert (Domanski et al. 2019).


Wie nachhaltig diese Änderungen sich umsetzen und welche Wirkungen sie auf das Dorf haben (werden), ist noch offen. Und: Was ist mit den etwa 250 Leuten, die dem Ortsverein nicht beigetreten sind? Haben sie dieses Bedürfnis nach Gemeinschaft nicht? Sehen sie den Mangel vor Ort anders, sind sie bereits anderweitig engagiert? Was zeichnet eine Soziale Innovation als erfolgreich aus, ab wann spricht man davon, dass sie wirkt? Wenn sie in Form eines Vereins oder einer anderen Institution gegründet wurde? Wenn sich Personen zusammengetan und als Gemeinschaft konsolidiert haben? Wenn sie besucht werden und, wenn das der Erfolgsindikator ist, wie viele Besucher:innen und was für Besucher:innen – Stichwort kulturelle Teilhabe – braucht es, um als erfolgreich zu gelten? Und wer ist die Instanz, diesen Wert festzulegen? Die Vereinsmitglieder, die kommunalen Fördermittelgeber, das Dorf, wir Wissenschaftler:innen? Diese und weitere Fragen stellen sich im Rahmen des Forschungsprojekts – wir bleiben dran.


Hier geht’s zur Webseite des Projekts „SIKUL“: https://www.h-brs.de/de/centim/Sikul

 

Literaturhinweise und Websites:

Thünen Landatlas, online unter: https://karten.landatlas.de/, zuletzt abgerufen am 26.04.2024

Domanski, Dmitri; Howaldt, Jürgen; Kaletka, Christoph (2019): A comprehensive concept of social innovation and its implications for the local context - on the growing importance of social innovation ecosystems and infrastructures. In: European Planning Studies 28 (3), S. 454-474. DOI: 10.1080/09654313.2019.1639397

Forschungsprojekt SIKUL im BMEL-Fördermaßnahme „Faktor K – Forschung zum Faktor Kultur in ländlichen Räumen“, online unter: https://www.h-brs.de/de/centim/Sikul, zuletzt abgerufen am 26.04.2024

Hofbauer, Reinhard (2016): Soziale Innovation als neues Leitbild für soziale Entwicklung? In: Zeitschrift für Zukunftsforschung 5.

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