Das wissenschaftliche Soziale-Orte-Konzept wurde von Jens Kersten, Claudia Neu und Berthold Vogel entwickelt. Es entstand aus einer Auseinandersetzung mit den Herausforderungen für strukturschwache ländliche Räume. Denn in Ergänzung zum traditionsreichen Zentrale-Orte-Konzept, das eine Versorgung „top-down“ bzw. von außen vorsieht, sind im Kontext des Strukturwandels auch lokale Kräfte zu nutzen und lokale Akteure zu stärken. Im Zentrum des Konzepts stehen dessen namensgebenden Sozialen Orte:
„Soziale Orte“ sind Räume und Zusammenschlüsse – z. B. Initiativen oder Netzwerke – die von lokalen Akteuren bzw. Akteursgruppen getragen und genutzt werden, um zusammen Lösungen für konkrete lokale Bedarfe zu schaffen. Ihr Anliegen sind nicht Partikularinteressen, sondern das Gemeinwohl. Räumliche Nähe ermöglicht Kommunikation, Vernetzung und Kooperation. So können unterschiedliche Ressourcen gebündelt werden, die Akteur:innen aus (lokaler) Zivilgesellschaft, (kommunaler) Verwaltung und (regionaler) Wirtschaft einbringen. Die Zahl der Teilnehmenden ist nicht entscheidend; relevant ist, dass ein niedrigschwelliger Zugang besteht, so dass unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Milieus mitwirken können. Ferner, dass ein direkter und persönlicher Austausch zwischen Beteiligten entsteht. Soziale Orte können online ergänzt bzw. koordiniert werden, im Zentrum steht aber die analoge Begegnung.
Orte der Auseinandersetzung
Nicht selten erfüllen Soziale Orte Funktionen der Daseinsvorsorge. Doch um die konkrete Aktivität herum entsteht stets Begegnung und ein Aufeinander-Bezugnehmen, es findet ein Voneinander-Lernen und Verändern von Routinen statt. Die gemeinsame Arbeit an einem konkreten und praktischen Anliegen bringt unterschiedliche Akteure zusammen und miteinander in Austausch. Vieles muss ausgehandelt werden, anlässlich konkreter zu treffender Entscheidungen über das „Wie“ des gemeinsamen Handelns kommen grundlegende gesellschaftliche Fragen auf die Tagesordnung. Soziale Orte festigen lokale Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem sie als Orte der Verhandlung und Konfliktaustragung fungieren. Wenn sich gesellschaftliche Konfliktlagen an Sozialen Orten kristallisieren, kann das produktive Effekte für die jeweiligen Orte und Regionen haben.
Orte der Innovation
Soziale Orte können, so sie vor Ort etwas Neues und eine Verbesserung darstellen, als Soziale Innovation gelten. Dies ist eher die Regel als die Ausnahme, sind Soziale Orte doch häufig eine Antwort auf einen Verlust, etwa an Infrastruktur. Aus dieser Mangelsituation heraus finden Akteure vor Ort neue Lösungen: Gerade die Unterschiedlichkeit ihrer Perspektiven und Beiträge ist dazu geneigt, innovative Ansätze hervorzubringen. Soziale Orte können selbst wiederum (soziale) Innovationen in ihrem Umfeld anstoßen.
Voraussetzungen
Für die Initiierung und Stabilisierung Sozialer Orte sind überdurchschnittlich engagierte und innovationsfähige Akteure erforderlich. Es braucht die „richtigen Leute“ am „richtigen Ort“. Soziale Orte entwickeln sich i.d.R. nicht gegen oder ohne öffentliche (Infra-)Strukturen, sondern mit ihnen. Deshalb ist die Offenheit der (Kommunal-)Verwaltung – in ihrer Rolle als demokratische Infrastruktur – für partizipative Prozesse und innovative Kooperationen mit verschiedensten Akteuren ein zentraler Punkt. Wenn Soziale Orte überregionale Aufmerksamkeit, Anerkennung und Einbindung in Netzwerke erhalten, übt dies eine stabilisierende Wirkung aus: Es verhindert Engstirnigkeit und Kirchturmdenken, schafft ein Gegengewicht zur lokalen Dominanz einzelner Gruppen, und zieht zusätzliche Ressourcen an. Ein weiterer förderlicher Faktor ist die Orientierung auf Dauerhaftigkeit. Soziale Orte sollten weniger als Projekt, sondern viermehr als Prozesse gedacht werden, die andauern und nachhaltig wirken.
Beispiele
Soziale Orte lassen sich in unterschiedlichen Bereichen finden: Der ehrenamtlich betriebene Dorfladen (Lebensmittelversorgung), der neugegründete Verein zum Weiterbetrieb eines Theaters oder Schwimmbades (Kultur, Sport), der IT-gestützte, selbstorganisierte Mitfahrzirkel (Mobilität). Auch qualitativ Neues kann Gegenstand Sozialer Orte sein, etwa die Lebensgemeinschaft, die auf dem Land einen nachhaltigen Lebensstil ausprobiert, bzw. auch neu Entdecktes, wie ein historisches Bauwerk mit Identifikationswert für die Region, die von einer Bürgerinitiative renoviert und in Wert gesetzt wird, oder die offene Reparaturwerkstatt oder Tauschbörse für Gebrauchtes.
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