Soziale Innovationen - was ist damit gemeint?

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Blog-Beitrag #1 vom 20.08.2023

von René Lehweß-Litzmann und Maike Reinhold (SOFI Göttingen)

Das Projekt InReSo erforscht den Beitrag Sozialer Orte zur Innovationstätigkeit in strukturschwachen Regionen. Es muss sich bei Innovationen nicht immer um neue Produkte oder Fertigungsprozesse handeln; was wir hauptsächlich zu finden erwarten, sind soziale Innovationen. Doch was ist mit diesem gängigen Begriff genau gemeint, bzw. was verstehen wir darunter?


Soziale Innovationen sind für uns Verhaltensänderungen, die es Menschen ermöglichen, ein sich ihnen stellendes Problem besser zu lösen als bisher. Aufgrund positiver Bewertung wird die neue Verhaltensweise beibehalten, sie gewinnt Selbstverständlichkeit für die Akteure. Wenn die soziale Innovation von anderen bzw. in anderen Kontexten imitiert und etabliert wird, kann sie zu sozialem Wandel beitragen (vgl. Howaldt 2018; Howaldt und Schwarz 2010).


Was sind Beispiele für soziale Innovationen?

Eine soziale Innovation muss keine Weltneuheit sein, es genügt die Neuheit für eine bestimmte Gruppe an einem bestimmten Ort. Gänzlich Neues tritt nur selten auf. So fallen in unseren Interviews mit Expertinnen und Experten, die – aus unterschiedlichen beruflichen Kontexten kommend – alle mit der  Entwicklung von Dörfern, Kommunen und Regionen zu tun haben, oft ähnliche Stichworte. Gleichwohl wird dabei die Vielfalt an Kontexten deutlich, in denen soziale Innovationen auf dem Lande beobachtet werden:

  • Mobilität: Mitfahrbänke; Car-Sharing-Modelle, ggf. elektro-mobil und/oder mit ehrenamtlichem Fahrdienst
  • Einkaufen: bürgerschaftlich verwaltete Einkaufsläden (als wirtschaftlicher Verein oder Genossenschaft); vollständig automatisierte Einkaufsläden ohne Personal
  • Gesundheit: medizinische Telesprechstunden, aufsuchende Gesundheitsprävention für nicht-mobile Patient:innen
  • Wohnen: Mehrgenerationenhäuser, integrative Wohnprojekte
  • Soziales: Besuchsdienst für einsame Dorfbewohner, z.B. bei Aufenthalt im Krankenhaus
  • Ökologie: Bioenergiedörfer, Energiegenossenschaften
  • Arbeiten: Co-Working-Space
  • Kommunikation: digitalen Dörfer, in denen Apps Menschen in Verbindung bringen; neue Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger:innen in der Lokalpolitik, etwa durch aufsuchende Formate („mobile Zukunftswerkstatt“)


In den Beispielen zeigt sich, dass Soziale Innovation häufig in Verbindung mit technischen Innovationen auftreten. Zum Teil sehen wir neue Dinge auch in Kombination miteinander. So z.B. ein Konglomerat von anwohnergetragenem Lebensmittelladen, Café-Treff, Mehrgenerationenhaus, Ferienwohnung, ggf. mit lokaler Energieerzeugung, ggf. einschl. Baudenkmalpflege. Denkbar ist, dass gerade dieses Zusammenspiel, abgestimmt auf lokale Ressourcen und Bedarfe, dafür sorgt, dass die soziale Innovation vor Ort Bestand hat, weil verschiedene Gruppen angesprochen werden, oder weil eine Querfinanzierung möglich ist.


Über welche Innovationsressourcen verfügen ländliche Regionen, die (sozialen) Innovationen Vorschub leisten? Auf diese Frage hin werden uns in erster Linie zivilgesellschaftliche Akteure genannt, etwa von einer Expertin, die selbst an Vitalisierungsprozessen in Kommunen arbeitet: Für uns die wichtigste Ressource, die eine strukturschwache Region oder Kommune eigentlich haben kann, sind motivierte und engagierte Personen, also sowohl im Haupt- als auch im Ehrenamt. Damit sind auch Zugezogene gemeint, die der Großstadt etwa im Kontext der Covid-19-Pandemie den Rücken gekehrt haben. Ein anderer Experte aus dem Bereich Regionalförderung hebt die fruchtbare Zusammenarbeit von Neuzugezogenen und Alteingesessenen hervor. Hier kommen neue Ideen der einen Gruppe mit der Beständigkeit der anderen Gruppe zusammen, es sei ein „Erfolgsrezept […] wenn beide gut miteinander können“. In jeder Form sei eine vielfältige Bevölkerungsstruktur innovationsförderlich, da unterschiedliche Perspektiven und Kenntnisse eingebracht werden. Der Experte hebt auch den Nutzen einer Diversität an Berufen hervor, die auch in Dörfern versammelt sei.


Auch geringere Anonymität und Zusammenhalt in dörflichen Strukturen werden als Innovationsressourcen explizit genannt. „Ich glaube, dass viele Innovationen in einer anonymen Großstadt gar nicht entstehen würden, da sich die Leute gar nicht kennen“, sagt uns ein Experte aus dem Bereich Wirtschaftsförderung. Zusammenhalt in einem Ort sei eine Voraussetzung für die „Bereitschaft sich bestimmten Problemen überhaupt zu stellen“. Eine andere Expertin nennt es Identifikation: „je mehr ich mich identifiziere mit meinem Ort, desto mehr bin ich auch sicherlich bereit dafür zu leisten. Ein Hindernis für Zusammenhalt und Identifikation sei das berufliche Pendeln, also wenn ein Ort für Viele nur Schlafstadt oder aber nur Arbeitsort ist. Veränderungsbedarfe werden dann nicht angegangen, oder womöglich gar nicht erkannt.


Neben vielen sozialen Aspekten kommt in unseren Interviews auch eine materielle Basis von Innovationen im ländlichen Raum zur Sprache. Dort ist die notwendige Fläche vorhanden, um Dinge umzusetzen, diesem Vorteil stehen aber vielerorts Mängel an der Infrastruktur gegenüber. Ohne eine gute Bahnanbindung, Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser, etc., können Menschen nicht bleiben und somit auch nicht die Region voranbringen. Fehlen bspw. Berufsschulen, gehen junge Menschen für die Ausbildung weg und kommen vielleicht nicht zurück. Auch die Internetverbindung wird als extrem wichtig benannt; Teilhabe an der Kreativwirtschaft vom ländlichen Co-Working-Space aus ist offline kaum möglich. Diese lokalen Standortfaktoren zahlen letztlich auch auf die Wirtschaftlichkeit ein, ohne die Innovationen auf dem Land nicht bestehen können, wenn die Förderung ausläuft.

Um Innovationen anzuschieben, ist materielle Innovationsförderung vonseiten des Staates oder der Europäischen Union (z.B. im Programm LEADER) relevant. Kommunen stellen nicht selten auch Räume zur Verfügung. Ein interviewter Bürgermeister hebt auch die Rolle von Verwaltung als Vermittler zwischen Akteuren hervor (Scharnierfunktion), ähnliches gilt für Kammern. Eine etwaige Rolle von Unternehmen vor Ort für soziale Innovationen wird im Projekt untersucht


Sind Innovationen per se etwas Gutes? Wie schon oben in unserer Definition sozialer Innovationen hervorgehoben, werden neue Verhaltensweisen von Menschen in einer mehr oder weniger bewussten Entscheidung angenommen, weil sie sich besser dazu eignen, bestehende Probleme zu lösen. Dies macht Innovationen tatsächlich schon definitionsgemäß erstrebenswert. Doch nicht für alle Stakeholder-Gruppen muss das Neue besser sein als das Alte, und schon gar nicht für alle Zukunft. Innovationen bringen stets die Möglichkeit unbeabsichtigter Effekte mit sich (vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft). Unter dieser Hinsicht ist die Innovation um der Innovation willen sicher nicht sinnvoll; „es gibt so viel Kräfte, die wollen, dass wir diese Innovation machen, leider unreflektiert“, betont einer unserer Gesprächspartner, ein anderer nimmt den Begriff der „Innovationstreiberei“ in den Mund. Haben Neuerungen, die primär auf die Vermarktung neuer Produkte zielten, wie etwa das Fernsehen, das Leben der Menschen denn besser gemacht, oder nicht vielmehr Dorfgemeinschaften geschwächt und zu Einsamkeit geführt? Solche Überlegungen geben z.T. einem ausgesprochenen Innovationspessimismus Raum, in dem Sinne, dass Innovationen negative Rückwirkungen auf die Gesellschaft haben, indem sie gute Dinge abschaffen und sie durch schlechtere ersetzen, oder gar das Leben selbst gefährden (Klimawandel).


Andererseits können Innovationen aber auch die Antwort auf tatsächliche Probleme sein, sie ermöglichen einen produktiven Umgang mit Verlusten und anderen Herausforderungen. Das bringt Innovationen mit ländlicher Entwicklung, dem ländlichen Raum in Verbindung, denn gerade dort stellen sich Zukunftsfragen besonders dringend: Wie entwickelt sich die Lebensqualität angesichts schwindender Arbeitskräfte, sich ausdünnender Infrastruktur, etc. Wird Teilhabe an der modernen Lebensweise und am Wohlstand außerhalb der Ballungszentren möglich sein? Ein Experte bestätigt in eigenen Worten die Ausgangsüberlegung des Projekts: „das sind ja alles Innovationen, die sozusagen aus einer Problemstellung heraus entstehen und diese Problemstellung, die ist natürlich insbesondere im ländlichen Raum gegeben und da wir Orte haben, wo die Herausforderungen besonders groß sind, würde ich jetzt auch mal sagen, regt das zu besonders innovativen Lösungen an. (…) Ich glaub halt für jedes Problem gibt’s auch ‘ne Lösung. Wenn wir die noch nicht erfunden haben, dann müssen wir halt weitersuchen […] deswegen bin ich schon der festen Überzeugung, dass es immer gelingt mit Innovationen auch das Leben wieder ein Stück weit besser zu machen.

Literaturhinweise:

Howaldt, Jürgen, und Michael Schwarz. „Social innovation: concepts, research fields and international trends“. Aachen: International Monotoring (IMO), 2010. http://www.transitsocialinnovation.eu/resource-hub/social-innovation--concepts-research-fields-and-international-trends.

Howaldt, Jürgen, Christoph Kaletka, Antonius Schröder, und Marthe Zirngiebl, Hrsg. Atlas of Social Innovation. New Practices for a Better Future. Dortmund: Sozialforschungsstelle, TU Dortmund University, 2018. https://www.socialinnovationatlas.net/fileadmin/PDF/Atlas_of_Social_Innovation.pdf.